
Ich kann die Stationen aufzählen, an denen mir als Kind die Flügel gestutzt und schliesslich gebrochen wurden. Das erste Mal als ich drei Jahre alt war, dann mit acht, dann mit zwölf. Die Pubertät habe ich irgendwie knapp überlebt und bin in einem explosionsgefährlichen Trümmerhaufen daraus aufgewacht.
Es waren im einzelnen keine dramatischen Ereignisse gewesen. Sie waren vielmehr schleichend und unscheinbar. Aber sensibel, wie ich bin, und in dem familiären Klima hinter den Kulissen, waren sie in der Summe für mich toxisch. Ich habe als Kind zahlreiche Hilferufe ausgesendet: Bettnässen, Stottern, Migräne, Allergien, Asthma, Kontaktschwierigkeiten, Introvertiertheit, Anzeichen von Autismus, um nur die offensichtlichsten zu nennen. «Reiss dich zusammen!» «Benimm dich endlich normal!» «Du könntest, wenn du nur wollen würdest!» Sie wussten es nicht besser. Ich machte heute niemandem mehr Vorwürfe, am wenigsten meinen Eltern. Sie hatten ihren eigenen Rucksack zu tragen und bekamen auch keine Hilfe. Zu meiner Zeit waren die Möglichkeiten zur gezielten Erkennung und Unterstützung von Kindern wie mir und deren Familie im Vergleich zu heute sehr beschränkt.
Meine Hemmungen und Kontaktschwierigkeiten hatten auch ihre postiven Seiten, wie fast alles im Leben zwei Seiten hat. Sie verhinderten, dass ich in zweifelhafte Gesellschaften geriet und mein Leben vollends zerstört hätte. Der Platzspitz damals in Zürich war verdammt nahe gewesen. Aber weder Drogen noch Alkohol oder sonst irgend ein Blödsinn hatte ich jemals als Ausweg oder Flucht in Betracht gezogen. Nicht mal geraucht hatte ich. Ich bin in meiner Fantasie in andere Welten geflüchtet, habe mich im Schreiben verloren, Geschichten, die nie jemand gelesen hat.
Aber es gab auch eine Handvoll Menschen, die mich nicht kritisiert, sondern an mich geglaubt, mich aufgebaut und gestärkt hatten. Eine Person sticht besonders heraus, ein Lehrer, bei dem ich jedes Freifach belegte und Interesse vortäuschte, nur um in seiner Nähe zu sein. Ich besuchte ihn an schulfreien Nachmittagen in seiner anderen Arbeitsstelle in einem Zürcher Freizeitzentrum. Ich besuchte ihn an den Wochenenden und half ihm bei der Renovation seines Hause (oder stand ihm im Weg). Ich bedrängte ihn, bei ihm einziehen zu dürfen. Die Eltern wussten nichts davon. Als sie heraufbekamen, wo bzw. bei wem ich mich herumtrieb und immer zu spät nach Hause kam, wurde mir der private Kontakt mit diesem Lehrer verboten. Zu seinem eigenen Schutz hielt er sich daran und liess mich nicht mehr in sein Haus, als ich von zu Hause abhauen und trotzdem zu ihm wollte und hoffte, er würde mich bei sich verstecken. Der Verdacht, der ihm unterstellt wurde, konnte er sich verständlicherweise nicht leisten. Tatsächlich war dieser Verdacht absolut unbegründet, aber ich wurde weder gefragt noch hätte man mir geglaubt. Aber rückblickend glaube ich, hätte er alles mit mir machen können, ich hätte ihn trotzdem - oder erst recht - geliebt. Obwohl, an das Gefühl von Liebe kann ich mich nicht erinnern, was damit zu tun hat, dass ich gelernt hatte, meine Gefühle zu unterdrücken. Ich war damals fünfzehn und behauptete, ausnahmsweise normal wie jeder Fünfzehnjährige, ich hätte mich und die Welt im Griff. Tatsächlich hatte ich überhaupt nichts im Griff und hungerte nach Liebe und Zärtlichkeiten. Das habe ich von diesem Lehrer nicht bekommen. Trotzdem hatte mir damals die Stütze geboten, die ich so dringend brauchte. Und auf diese Ressource konnte ich rund vierzig Jahre später erneut zurückgreifen, als ich endlich wieder fliegen lernen konnte. Sie war sogar entscheidend für diesen Prozess. Diese Erkenntnis habe ich allerdings erst während der Ausbildung zum Coach gewonnen.
Ich schreibe dies so ausführlich als Apell an alle Lehrpersonen und andere, die mit Kindern zu tun haben: Gebt ihnen alles, was ihr ihnen geben könnt, ihr wisst nicht, ob das (seelische) Überleben eines Kindes oder Jugendlichen vielleicht genau von euch abhängen könnte. Ihr seht nicht in sie hinein. Ich weiss nicht, ob diesem Lehrer bewusst war, was er für mich getan hatte, und ich weiss nicht, was mit mir passiert wäre, wenn er nicht gewesen wäre. Die vielzitierte und gelehrte Abgrenzung dient vorallem dem Schutz der Erwachsenen und nicht dem der Kinder und Jugendlichen.
Jedes Kind wird unweigerlich erwachsen. Das heisst, der Körper wächst einfach vor sich hin und kümmert sich wenig um das innere Chaos und ob die Seele mithalten kann. Die Gesellschaft sorgt dann schon dafür, dass man in irgend ein Schema gepresst wird und einigermassen funktioniert. Und dann kriecht man als Wurm durchs Leben, unzufrieden und konstant auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Auch ich wurde erwachsen und lebte jahrelang in der Illusion, meinen Platz gefunden zu haben, hatte die Suche nach dem verlorenen Glück schon beinah aufgegeben.
Aber dann schleuderte mich ein sehr besonderes Erlebnis zurück in meine Teenagerzeit und erlaubte mir, die Weichen nochmals neu zu stellen. Nun aber in die Richtung, von der ich damals abgedrängt wurde, weil die Zeit, weil meine Zeit, noch nicht reif dafür gewesen war. Dieses Gefühl, endlich fliegen zu können, endlich frei zu sein von Druck, von Zwängen, von Ängsten, wenn das innere Kind zu tanzen anfängt und das Leben neu beginnt, dieses Gefühl hat ungeahnte Energien in mir freigesetzt. Das ist der Grund, warum ich meine zweite Lebenshälfte der Heilung, dem Aufbau und der Stärkung von Kindern und deren Familie verschrieben habe.
Etwas weniger dramatisch formuliert würde ungefähr so tönen: Ich habe mich neu orientiert und möchte mein Leben einsetzen für etwas, was mir sinnvoll erscheint und mir persönliche Befriedung vermittelt.
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